(c) Klaus Marion 1990
erschienen in VorSicht 8/89
"Moment Froileinsche, i hab des Geld passend, ...
wo is es denn nur... also gleich hab ich es..."
'Das Schicksal des Menschen ist unbegreiflich'. Dieser netten Einsicht Goethes kann
auch ich mich nicht verschließen. Ist es des einen Bestimmung, als Astronaut,
Tiefseetaucher oder erfolgreicher Steuerhinterzieher in die ruhmreichen Annalen der
Geschichte einzugehen, so scheint mir nur ein Dauerplatz in der Schlange vergönnt zu
sein.
Genauer gesagt: In der Schlange vor einer Supermarktkasse.
Nach einer offiziellen Studie der Vereinten Nationen verbringt das durchschnittliche Individuum der \/westlichen Kulturnationen 17,6 Jahre mit dem Warten auf das Abkassieren an irgendwelchen Verkaufstellen. Ich halte jedoch diese Zahl für falsch: Sie ist stark untertrieben.
Nach meiner Erfahrung hat sich die regelmäßige Wartezeit in Großmärkten und obskuren Gartencentern so sehr vergrößert, daß von Regierungsseite her dem Problem von in Kassenschlangen geborenen Erdenbürgern eine besondere Beobachtung geschenkt werden sollte.
Die Frau an der Kasse durchwühlt immer noch ihre Handtasche. Seit mindestens
einer viertel Stunde stehe ich jetzt und warte. Die Tatsache, daß der Großmarkt, den ich
lediglich zum Kauf einer kleinen Tüte Hundekuchen aufgesucht habe, mindestens 25 Kassen
sein eigen nennt, kontrastiert stark mit der Tatsache, daß nur 2 Kassenblöcke geöffnet
sind.
Natürlich weiß ich, daß rein gesetzmäßig die Schlange, die man aussucht, sich am
langsamsten vorwärts bewegt.
Das ist aber hier nicht das Problem: Sie bewegt sich nämlich Überhaupt nicht.
Damit ist es bewiesen: Die Inquisition hatte doch recht! Galileo Galilei hatte mit seinem
"Und sie bewegt sich doch" nicht die Schlangen an einer Einkaufskasse gekannt.
400 Jahre Kulturgeschichte auf einem Irrtum erbaut. Tragisch. So tragisch wie diese
Verkaufsstauung. Ich versuche festzustellen, warum es nicht weitergeht. Soweit ich
erkennen kann, ist fünf Wartende vor mir der Preis einer Ware nicht auffindbar.
Gelangweilte "Isolde, was kostet das?"-Rufe ausstoßend, versucht die
Kassiererin, Licht in diese Angelegenheit zu bekommen. An keiner Packung der Preis? Der
Abteilungsleiter wird gerufen. Ich versuche, das Ende der Schlange hinter mir zu
identifizieren, doch deren Schatten verliert sich am Horizont zwischen Müsli und
Babywindeln.
Anscheinend ist der Preis jetzt gefunden. 50 gemarterte Seelen rücken einen Platz voran.
Ein leichtes Stöhnen der Qual zieht sich durch die Gänge. So muß es auf den alten
Sklavenschiffen gewesen sein.
Ein Herr unbestimmten Alters und der dynamischen Ausstrahlung eines Postbeamten im
mittleren Verwaltungsdienstes hat seine 3 Packungen Haferflocken auf das Band geschoben.
" U n d was... ä h ... bin ich äh ... Ihnen ... äh schuldig?"
Er ist offensichtlich schwerhörig. Jetzt will er mit Scheck bezahlen. Er schreibt sehr
langsam.
Bei der Nachbarschlange versucht eine entkräftete Frau, mit letzter Kraft auf den
rettenden Ausgang zuzukriechen. Sie wird von einem Wagen überrollt.
Ojh, jetzt hat er sich beim ausfüllen des Datums verschrieben. Er beginnt auf
einem neuen Formular von vorne.
Ich spüre an meinen Fußsohlen, daß ich anfange Wurzeln zu schlagen. Statt Hundefutter
hätte ich mir eine Gießkanne kaufen sollen. Was will ich denn auch mit Hundefutter? Mein
treuer, vierbeiniger Begleiter ist Zuhause längst verhungert, so wie einige Kunden, deren
Gebeine unter Regalen hervorlugen, unter denen sie entkräftet Schutz gesucht haben.
Wieder ein Blick nach vorne. Der Postverwaltungsdienst sucht jetzt nach seiner
Scheckkarte, findet sie aber offensichtlich nicht. Er beginnt, den Inhalt seiner Taschen
auf den Tisch zu legen. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und tippe das
kleiderschrankhafte Subjekt mit den abstehenden Armen und den Segelohren auf die Schulter.
"Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, mich vorzulassen?"
Er dreht sich langsam um, und ich erhasche einen Blick auf den Inhalt seines
Einkaufswagens: 3 Kästen Bier und ein Kauf-Video. Titel: 'Ein Zombie hängt am
Glockenseil Teil 111.
Er starrt mich mit blutunterlaufenen Augen an. "Hääh?"
Bevor es zu handgreiflichen Diskussionen über unsere verschiedenen Standpunkte kommen
kann, entschuldige ich mich schleunigst.
Der Scheck an der Kasse ist jetzt ausgefüllt. Mein Mut sinkt, die nächste Kundin hat einen bis oben gefällten Wagen, der mit Abstand größte Einzelartikel hat die Größe eines kleinen Schokoladenriegel. Die Kassiererin versucht vergeblich, eine neue Kassenrolle einzulegen. Ich schaue erstaunt auf die Uhr. Ich bin mir sicher, daß ich schon etwa einen Tag meinen Platz nicht mehr verlassen habe, doch meine Uhr belehrt mich eines besseren. Es ist erst eine Stunde.
Ich beobachte teilnahmslos, wie Rote-Kreuz-Helfer am Boden herumliegende Gestalten mit warmen Getränken versorgen. Mein stiernackiger Wartekamerad vor mir hat jetzt bereits das 6. Bier geleert. Bald wird er neue holen müssen. Die Kundin an der Kasse fängt einen Streit über die Höhe des Rückgeldes an. Der Geschäftsführer wird offensichtlich wieder gesucht.
Panik beginnt in mir aufzusteigen. Laßt mich raus! Ich will nach Hause, ich habe eine Frau, ein Kind und einen Hund. Einen hungrigen Hund.
Über meine spröden, geschwollenen Lippen kommt jedoch kein Ton. Ich deliere,
während neben mir verzweifelte hungrige Kunden um einen Schokoriegel kämpfen.
Plötzlich falle ich gnädig in eine erlösende Ohnmacht.
Als ich wieder zu mir komme, stehe ich immer noch, doch jetzt direkt von der Kasse. Mit
letzter Kraft wuchte ich das Hundefutter auf das Rollband.
Ich spreche ein kurzes Dankgebet und erwäge einen außerplanmäßigen Kirchenbesuch.
Die Verkäuferin blickt teilnahmslos in meine blutunterlaufenen Augen:
"Mittagspause. Gehen Sie bitte an Kasse2! "
Last updated 01.10.98