© Klaus Marion 2005
erschienen in VORSICHT 7/2005
Zu den beruflichen Helden meiner Jugend gehörten neben
wagemutigen Weltraumfahrern und wissenschaftlichen Tiefseetaucher die Vertreter
einer Spezies von Werktätigen, die unbestreitbar nicht so oft im Rampenlicht
des allgemeinen öffentlichen Interesses stehen: Kneipenbedienungen.
Mit einer ganz besonderen Faszination beobachtete ich immer die
Schlussabrechnung nach einem langen, getränkereichen Abend in großer
zechfreudiger Runde in überfüllten Kneipen, wenn die meist resolute weibliche
Bedienung nach dem Abkassieren von hektoliterweisen Biermengen, Drinks, Wein,
Snacks, Aperitifs und Absackern aller Art mit einem geschulten Blick auf Ihre
aus unzähligen Bierdeckeln, Blättern und einem scharfen Gedächtnis
bestehenden Aufzeichnungen problemlos auf noch nicht bezahlte Positionen
hinzuweisen vermochte: "Moment, ich habe noch einen Tequila offen. Den
hattest doch Du!" Und das zu Zeitpunkten in der Nacht, in der ich selber
nicht einmal mehr genaue Aussagen über meinen eigenen Namen machen konnte.
Natürlich: die Bedienung war nüchtern. Doch wie schwierig solche
Schlussabrechnungen aber trotzdem sind, konnte ich immer dann erleben, wenn
weniger geistesflinke Vertreter der Kassiererzunft nach dem Abrechnen des
Tisches hartnäckig die einer Strichliste noch offenstehenden 18 Bier, 14
Barcadi-Cola und drei Jägerschnitzel mir als letzte Einzelperson zuordnen
wollten.
Doch Dank moderner Technik ist jetzt auch dieses Problem gelöst.
Schon während des Bestellens der Getränke fiel mir auf,
dass sich etwas verändert haben musste. Wo noch eine Woche vorher die nette
Bedienung mir jeden Getränkewunsch mit einem freundlichen Lächeln von den
Augen abzulesen bereit war, starrte jetzt die gleiche Person angestrengt auf ein
kleines Kästchen in der Größe einer Fernbedienung, auf dessen buntem
Bildschirm sie allerlei virtuelle Tasten drückte. "Kommt sofort"
murmelte sie und verschwand Richtung Nachbartisch. Ich blickte meinen Freund
Rudi fragend an.
"Ist was ganz neues. Irre Technik. Der letzte Schrei!"
"Hier in Kreuznach?"
Rudi seufzte tief, während eine andere Bedienung uns zielsicher unsere
bestellten Getränke brachte.
"Echter Wahnsinn. Nie mehr verlorene Zettel oder markierte Bierdeckel! Die
Bedienung gibt die Bestellungen auf dem Touchscreen des Gerätes ein und ordnet
alles dem jeweiligen Tisch zu. Das geht per Minifunk an die Bar und wird unter
Zuordnung des Tisches am Tresen ausgedruckt. Dort wird alles erledigt und von
einer anderen Bedienung an den Tisch gebracht. Die Bedienung kann an allen
Tischen Bestellungen entgegennehmen und auch tischgenau abrechnen. Nichts geht
verloren. Zentral gespeichert! Und bei der Rechnung ist alles klar zuzuordnen.
Toll"
Ich war beeindruckt.
"Hört sich wirklich interessant an. Endlich mal ein Ende von dem ganzen
Durcheinander!"
Rudi zwinkerte mir zu. "Und das Beste kommt erst noch..."
Er wandte sich an einen Nachbartisch und begann einige gestenreiche
Verhandlungen. Details blieben mir aufgrund des hohen akustischen Grundpegels
verborgen, Ergebnis war aber unser der Umzug an einen Nachbartisch, dessen
bisherige Inhaber wiederum mit dem Tisch weiter vorne zu tauschen begannen.
"He, ich will aber nicht wechseln. Der Tisch hier ist viel besser als der
da vorne!"
"Mach keinen Aufstand. Ich habe denen erzählt, dass Deine Urgroßmutter an
diesem Tisch gestorben wäre, und Du gerne zu Ihrem Gedächtnis dort einen
trinken wollest!"
Folgsam zog ich mit, während auf Rudis Bemühungen hin jetzt mindestens 4
Tische untereinander ihre Besitzer wechselten.
"Und was soll das jetzt?"
Rudi grinste. "Pass auf: Jetzt kommt das Schönste des ganzen Abends.
Besser als jeder Thriller im Kino."
Eine Bedienung stellte ein Schnitzel vor Rudi auf den Tisch, worauf dieser
protestierend die Augenbraue hochzog.
"Moment. Das ist nicht für uns!"
"Doch. Tisch 13?"
"Ja, aber wir saßen bis vorhin an diesem Tisch da drüben. Und die
Besitzer von diesem Tisch sind an den Tisch 16 gewechselt. Und die von 16 an
Tisch 3." Die Bedienung wurde leichenblass.
"Bitte keine Tischwechsel" flüsterte sie, beginnende Panik in den
Augen.
"Dann muss ich die Getränke umbuchen" Mit Verzweiflung begann Sie
auf, auf ihrem Organizer Änderungen einzugeben.
"Also, Tisch 16 wechselt nach 3. ... Ich verschiebe also alle gebuchten
Getränke von 16 nach 3."
"Ja, und wir wechselten von 12 zu 13. Allerdings nur bis zum Weißbier,
weil die weiteren Bestellungen an diesem Tisch ja jetzt vom bisherigen Tisch 12
gemacht wurden. Ohne das Schnitzel. Das ist für Tisch 7," bemerkte Rudi.
"Aber obacht: Tisch 12 hat noch bestellt, als sie an Tisch 8 saßen. Oder
an 9. Allerdings ist das Essen schon vorher von dem Pärchen geordert worden,
dass jetzt an Tisch 2 Platz genommen hat," ergänzte Rudi hilfreich.
"Und wir hätten gerne 2 Bier. Für Tisch 13. Vorher 12. Bald 15."
Rudi neigte sich flüsternd zu mir vor, während die Bedienung immer
verzweifelter Tasten auf ihrem Gerät zu drücken begann.
"Das Beste ist: Jede Bedienung kann die gesamten Bestellungen des Lokals
umbuchen. Wird ja alles zentral gespeichert..." Ich wandte sich wieder an
die junge Dame.
"Klappt es nicht? Nur keine Aufregung. Wir kriegen das schon zusammen hin.
Geben Sie mal das Ding her. Hier: Bis zum Rumpsteak geht alles von Tisch 3 an
Tisch 18. 5,6 und 7 bleiben, wohingegen 3 nach 4 geht, abzüglich 5 Radler, die
noch auf Tisch 17 gebucht wurden. Die müssen wir hier hin tauschen, und alle
noch nicht ausgeführten Weißbierbestellungen gehen ab sofort an diesen Tisch.
Die Rechnungsverbuchung erfolgt dann gleichmäßig an die Tisch 11-17. Ups,
jetzt ist Tisch 7 weg. Sie haben auch eine Stornotoaste?"
Nach diesem ordnenden Eingriff in die allgemeine Buchführung war der Abend
gerettet. Sämtliche Bedienungen brachten ungeahnte Mengen von Weißbier an
unseren Tisch, während jede Abrechnung an den anderen Tischen zu lautstarken
Beschwerden führten, die von den Bedienungen nur durch immer neue
Korrekturbuchungen an den kleidsamen Handapparaten behoben werden konnten.
Der unterhaltsame Abend wurde gekrönt durch die lautstarke und handgreifliche
Beschwerde eines Gastes am Nebentisch, er habe keinesfalls eine komplette
Spansau incl. Füllung verzehrt, aber bereit, den Besitzer des Lokals in eine
solche zu verwandeln.
"So, jetzt reicht es für heute" beschloss Rudi nach unterhaltsamen
Stunden, winkte mit dem Arm und rief die Bedienung herbei.
Die inzwischen völlig verzweifelte Fachkraft kassierte völlig willenlos das
auf Ihrem Display angezeigte einzelne kleine Bier von mir, während Rudi
ausweislich des Handapparates 34 Euro 20 für "Div. Flaschenpfand"
herausbekam.
Rudi blieb ganz Kavalier.
"Machen Sie 5 Euro Trinkgeld und buchen Sie auf Tisch 11. Da saßen wir
vorher"
Eine tolle Technik.
Klaus Marion
Last updated 11.10.05