(c) Klaus Marion 3/2003
erschienen in VorSicht
Zu den Dingen, die mich als Kind im Fernsehen am
nachhaltigsten beeindruckt haben, gehörte die Fernsehsendung "Der Siebte
Sinn". In anschaulichen Bildern unter Zuhilfenahme modernster Stunttechnik
wurden einem dort die lauernden Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs
eindrucksvoll erläutert.
Besonders blieb mir dabei die Warnung vor dem zu niedrigen Reifendruck in
Erinnerung, einer Bedrohung, deren filmische Umsetzung mit dem schlingernde
Fahrverhalten eines Pkws nebst anschließendem Überschlag in eine neben der
Straße liegenden Hecke zu den filmischen Highlights dieser Serie gehört haben
dürfte.
Zwar konnte ich diese Gefahr im praktischen Alltag des kindlichen Fahrradfahrers
nicht reproduzieren (meine Fahrradreifen hatten immer gerade noch so viel Luft,
damit nur jede zweite Unebenheit auf die Felge durchschlug), wurde aber in
späteren Jahren durch die düsteren Erzählungen volljährig gewordener Freunde
untermauert, die beim zweiten Glas Bier mit in die Ferne gerichtetem Blick aus
ihrem unerschrockenen Heldenleben erzählten.
"Ich sach Dir, bei 180 macht der Reifen hinten einfach Peng, und schon
fängt die Kiste an zu wedeln. War wohl zuwenich Luft auf dem Gummi. Konnte
gerade noch dem LKW ausweichen, bevors mich schräg in den Acker haute. Jau, jau...
Is schon übel, so ein geplatzter Reifen."
Und so blieb seit dem Beginn meiner eigenen Motorisierung immer ein nagendes
Gefühl in meinem Hinterkopf zurück, dass man unbedingt bei der letzten
Tankstelle den Reifendruck hätte prüfen sollen. Ein bohrender Gedanke, der
beim Anblick von geplatzen Pneuteilen auf deutschen Autobahnen mit besonderer
Prägnanz ins Bewusstsein drängte.
Nach Jahren schlechtem Gewissen war ich es schließlich leid. Seit einiger Zeit
fahre ich jetzt einen PKW, der mit dem neuesten Highlight der Kfz-Elektronik
bestückt ist: Einer elektronischen Reifendruckkontrolle.
Wie Händler, Handbuch und Preisliste beredt erläutern, sollte einem dieses
Utensil keinesfalls zu teuer sein.
"Elektronische Drucksensoren sowie separate Wärmefühler messen permanent
den Druck Ihrer Reifen und vergleichen ihn mit dem internen Referenzwert. Lehnen
Sie sich entspannt zurück: Sollte es zu einer Abweichung im Druckwert kommen,
wird das System Sie umgehend informieren. Vergessen Sie Ihre Reifen."
So tat ich es.
Bis zum letzten Freitag.
Da blinkte während der Fahrt plötzlich ein Symbol im Armaturenbrett auf, dass
ich bisher noch nie ernsthaft beachtet hatte. Es stellte einen Reifen dar, der
mit eindeutig zuwenig Luft gefüllt war. Dazu blinkte das Symbol in einem
interessanten Rhythmus.
Leicht beunruhigt steuerte ich die nächste Tankstelle an. Eine erste Begehung
rund um mein Fahrzeug führte zu keinem näheren Ergebnis. Alle Reifen schienen
in Ordnung zu sein. Ich kramte die Bedienungsanleitung hervor.
"Ein aufleuchten der Kontrollleuchte zeigt ihnen einen signifikanten Abfall
des Luftdrucks in einem der Reifen an. Bestimmen Sie den problembehafteten
Reifen anhand des Blink-Rhythmus."
Ich bestimmte. Der wage an eine Polka erinnernde Rhythmus wies laut Handbuch
darauf hin, das der Reifen vorne links der überführte Übeltäter sein müsse.
Ich suchte den transportablen Druckmesser der Tankstelle und machte mich ad Hoc
an eine Druckbestimmung. 2,4. Leider hatte ich keine rechte Ahnung, wie hoch der
Druck bei diesem Fahrzeug zu sein hatte - schließlich war ich bisher noch nicht
in Verlegenheit gekommen, den Luftdruck jemals nachmessen zu müssen. In der
Fahrertür fand ich schließlich eine aufschlussreiche Tabelle. In
Matrixanordnung mit diversen Fußnoten versehen, konnte ich anhand der
kryptischen Zahlen auf meinen Reifen, der Jahreszeit sowie der Position des
Reifens feststellen, das der Wert für einen linken Vorderreifen genau 2,4
betragen müsse. Ich war ratlos. Ein neugierig herbeigetretener Autofahrer wies
mich darauf hin, dass ich unbedingt das Betriebshandbuch zu rate ziehen solle.
Schließlich müsse man bei der Ermittlung des optimalen Drucks auch noch andere
Faktoren bestimmen. Die Beladung zum Beispiel.
Das leuchtete mir ein. Ich ergriff das Handbuch im praktischen Taschenbuchformat
und begann das Kapitel über die Reifen zu studieren. Bald wurde ich fündig.
Ich multiplizierte meinen Tabellenwert mit einem Korrekturfaktor für die
Beladung, zog den Basiswert für m+s-Reifen ab und addierte den Index für die
Erwärmung durch mittellanges Fahren auf geteerten Fahrbahnen mittlerer
Körnung. Der neu errechnete Wert betrug exakt 2,4.
Der vorbeikommende Tankwart wies mich darauf hin, dass vielleicht eine
Druckdifferenz zwischen den Reifen die Elektronik zu einer Warnung veranlasst
habe. Ich prüfte die verbleibenden Reifen. Alle Reifen einschließlich des
Reserverates wiesen den Wert von 2,4 auf.
Ich überprüfte noch einmal die elektronische Anzeige: Eindeutiger
Polkarhythmus, also Abweichung vorne links. Und nur dort. Ich war ratlos. Ein zu
der sich langsam bildenden Menschenmenge hinzugetretener Herr wies mich darauf
hin, dass er glaube, gelesen zu haben, dass die Elektronik auch die
Reifentemperatur bei der Berechnung des korrekten Wertes berücksichtige.
Vielleicht habe der Reifen vorne links in der Sonne gestanden?
Ich betrachtete den herrschenden leichten Nieselregen und musste verneinen.
Immer noch Polka.
Vielleicht, so mutmaßte ein anderer Fahrer, erwarte die Elektronik zur
Verbesserung des Fahrverhaltens eine Absenken des Druckes, um die Griffigkeit
bei mittleren Kältetemperaturen zu erhöhen. Die einseitige Erwartung könne
vielleicht mit unterschiedlichem Schlupf in den Antriebswellen zu tun haben,
eine möglicher Fehler, den der Tankwart mit einer sofortigen kostenpflichtigen
Achsvermessung zu prüfen erbot.
Ich lehnte ab. Ein anderer griff eigenmächtig zum Reifendruckmesser, um den
Druck im Reifen soweit zu erhöhen, bis die Elektronik Entwarnung signalisiere.
Bei einem Befüllungsdruck von 3,5 und der Form eines geschwellten Luftballons
brachen wir das Experiment ohne Ergebnis ab und reduzierten wieder auf 2,4.
Polkarhythmus.
Da langsam der Tag sich neigte, und einige Zuschauer zur Demontage der Reifen
greifen wollten, entschloss ich mich, die Hotline des Fahrzeugherstellers zu
befragen. Man verband mich mit einem Techniker, dem ich das Problem sowie meine
Rechnungen ausführlich erläuterte. Als Antwort erntete ich nur ein Knurren.
"So genau ist die elektronik auch wieder nicht. Eine Abweichung von 0,3
wird sowieso nicht erkannt. Drücken Sie die Service-Taste und starten Sie damit
die Elektronik neu. Was weiß ich auch, warum die blinkt."
Ich war verwirrt.
"Ja, aber wie weiß ich denn dann sicher, ob der Reifendruck stimmt?"
"Ist doch logisch: Da messen Sie einfach jedes Mal an der Tankstelle
nach."
Klaus Marion
Klaus Marion
Last updated 02.05.03