(c) Klaus Marion 2002
erschienen in VorSicht
Mein Freund Rudi hatte mich geheimnisvoll zu einer abendlichen
Trainingsstunde in ST-Kampftechniken eingeladen, die er jetzt freiberuflich
unterrichten würde.
Da ich gerade nichts anderes zu tun hatte, beschloss ich, einmal hinzugehen.
Das von ihm benannte Trainingszentrum erwies als das Hinterzimmer einer Kneipe
und war von einem Dutzend Personen besetzt, die sich paarweise
gegenüberstanden. Rudi stand daneben. Als er meiner ansichtig wurde, beendete
er das Geschehen mit einem "5 Minuten Kampfpause!" und eilte auf mich
zu.
"Na, was sagst Du?"
"Ich bin mir nicht sicher" antwortete ich wahrheitsgemäß.
"Deine Schüler tragen ja gar keine Trainingsanzüge und Gürtel"
"Wieso denn Anzüge?"
"Nun, ich dachte... Ist ST nicht irgend etwas mit Karate?"
"Karate? ST heißt Small Talk. Und ich habe die erste Kampfschule in diesem
aufstrebenden Bereich in Bad Kreuznach gegründet!"
"?"
Du weißt doch, was Small Talk ist: Er wird immer dann zum Einsatz gebracht,
wenn man Personen gegenüber steht oder sitzt, mit denen man zwar eigentlich
weder reden will noch wüsste, was man ihnen Interessantes mitteilen sollte,
aber das Schweigen einfach zu peinlich wird. Klassenfahrt, und der letzte freie
Platz im Bus war neben dem Mathelehrer? Im Firmenfahrstuhl Leute treffen? Bei
der Weihnachtsfeier am Tisch des Chefs sitzen? Da wird Small Talk gebraucht.
"
"Hm. Ein bisschen Blah Blah machen kann doch jeder."
"Ja, aber Du siehst nicht, dass in der heutigen Zeit Small-Talk viel mehr
ist. Stell Dir vor, Du stehst im Fahrstuhl mit vielen anderen Leuten. Jetzt
wirst Du angesprochen. Du musst natürlich was geistvolles sagen, und nicht vor
Dich hin stottern. Und Du darfst aber auch nicht das Gespräch mit Deiner
Antwort einfach abwürgen. Denn sonst dehnt sich die Stille immer weiter aus und
wird so richtig peinlich. Du darfst Dich natürlich auch nicht auf eine echte
Diskussion einlassen. Das heißt, die Plattitüdenquote muss extrem hoch sein.
Keine Festlegungen. Und inzwischen hat sich diese Kunst der Unterhaltung zu
einer Sportart weiterentwickelt. Pass mal auf!"
Er wandte sich an die Gruppe.
"Wir machen jetzt einige Übungskämpfe. Bitte suchen Sie sich einen
Partner und beginnen Sie mit einem Match!" Er beugte sich zu mir vor.
"Pass mal auf. Das ist Susanne Utarius. Sie ist Regionalvizemeisterin Small
Talk. Ihre Gegnerin heißt Ulla Kokofski und hat bei den nationalen
ST-Meisterschaften einen viel beachteten 4. Platz belegt."
Die beiden standen sich gegenüber und verbeugten sich leicht.
"Der rituelle Gruß der Small-Talker. Ah, ich sehe, die Auslosung ist
passsiert. Ulla wird eröffnen." Die genannte setzte ein Lächeln auf.
"Ganz schön kalt heute, finden Sie nicht auch?"
"Ja, ziemlich kühl. Allerdings war es gestern noch etwas kälter."
Rudi sah mich an. "Das war die klassische Wettermann-Eröffnung. Sie ist
die häufigste Eröffnungsvariante, und gilt für die ersten 6-8 Züge als
theoretisch weitgehend abgehandelt. Die Sätze können direkt aus der
Eröffnungsliteratur gespielt werden. Beachte bitte, wie Susanne die Erwiderung
variiert hat, in dem sie andere Tage ins Spiel bringt. Gibt mit Sicherheit die
Windgeschwindigkeitserwiderung..."
"Aber das lag nur an dem kalten Wind. Dadurch scheint es noch 2 Grad
kälter!"
"Das stimmt. Es heißt ja, dass ein kalter Winter einen heißen Sommer
gibt!"
"Und das ist gut für die Landwirtschaft. Trotzdem ist die Kälte schon
unangenehm"
"Ja, aber man kann ja trotzdem froh sein, dass es endlich mal wieder einen
richtigen Winter gibt!"
Rudi flüsterte mir leise ins Ohr " Oha, Susanne versucht die Initiative zu
ergreifen. Die Frage ist vergiftet. Anfänger antworten hier mit einem einfach
"Ja", und das Gespräch ist beendet. Das wird als technisches K.O.
gewertet und führt zum direkten Abbruch des Matches. Schauen wir mal den
weiteren Verlauf an:"
"Da haben Sie recht. Kachelmann hat im Fernsehen gestern das Gleiche
gesagt."
Rudi war ganz aufgeregt. "Genial! Sie öffnet auf der TV-Seite weit das
Feld und bereitet jetzt einen Vorstoß im Bereich Medien vor. Eine raffinierte
Variante, um die Enge der Eröffnung aufzureißen."
"War das vor der Günter Jauch Show oder danach?"
Rudi wiegte den Kopf. "Das hätte in einem offiziellen Match Punktabzug
wegen technischem Foul gegeben. Expliziter Wissensstand darf nicht abgefragt
werden, da der Mitspieler wegen Nichtwissens sonst in Verlegenheit gebracht
werden würde."
"Na, der Jauch macht ja inzwischen an jedem Abend irgendetwas!"
"Aber er macht das ganz gut"
"Ja, früher mit Gottschalk zusammen, da konnte er sich nicht so recht
entfalten"
"Nun, der macht ja auch nicht mehr so viel. Aber diese Fernsehshows nehmen
ja wirklich überhand!"
Rudi machte sich Notizen. "Clever. Mi einer TV-Rochade hat die Gegnerin das
Gespräch in die aktuelle Jauch-Eröffnung übergeleitet. Ist momentan unter den
ST-Kämpfern sehr beliebt."
"Aber doch nicht mehr so schlimm wie bei den vielen Talk-Shows
früher?"
Die Gegnerin sucht nach Worten, während Rudi mir aufgeregt in die Seite
stupste. "Da, sie schwächelt. Sie sucht nach Worten... Da deutet sich ein
technischer K.O. an!"
"Äh, nun, äh... soviel waren das doch aber auch nie gewesen "
("Das war knapp!")
"Ich bitte Sie, Türk, Pilawa, und dann doch auch noch die, wie sie hieß
sie noch, die...?"
Rudi sprang auf.
"K.O. durch Ansatz eines ungültigen Griffes! Sie dürfen keinesfalls den
anderen durch Wissenslücken in Bedrängnis bringen. Das führt zum sofortigen
Abbruch und zur vollen Punkwertung für den Gegner. Bitte verabschieden Sie sich
voneinander."
Die beiden verneigten sich rituell voreinander und setzten sich wieder hin. Rudi
war noch ganz aufgeregt.
"Hast Du das gesehen? So schnell kann's gehen! Kurz vor dem Aus, und dann
noch ein schneller Rebound, und dann ein kapitaler Fehler des Gegners. Das ist
ein Sport!"
Ich starrte in zweifelnd an.
"Ich bin mir nicht sicher."
"Willst Du nicht mitmachen?
"Nein, und kälter war es gestern auch."
"Ist aber gut für die Landwirtschaft! Sagt auch Kachelmann!"
Ich ergriff eiligst die Flucht.
Klaus Marion
Last updated 05.05.02