(c) Klaus Marion 4/2002
erschienen in VorSicht
Der Lichtbildervortrag, den ich besucht hatte, war
interessant gewesen, und so verließ ich das Gebäude, nicht ohne mich um
verschiedenen Ansammlungen von Personen herumbewegen zu müssen. Da ich mich
erinnerte, dass zur gleichen Zeit verschiedene Kurse der Volkshochschule im
selben Gebäude veranstaltet wurden, ordnete ich diese Gruppen als
pausenmachende Wissensbedürftige ein und blickte mich interessiert um, ob ich
jemand Bekannten entdecken würde.
Ich war doch recht überrascht, als ich meinen alten Freund Rudi an einem der
Gangfenster erblickte.
"Du hier? Seit wann besuchst Du denn die Volkshochschule?"
Rudi schien fünf Zentimeter größer zu werden.
"Ich besuche hier doch keine Kurse. Ich gebe welche!"
"Du? Zu welchem Thema? Geld leihen einfach gemacht?"
"Ich bitte Dich. Ich bin der Referent für die VHS-Kurse zum Thema '
Sonderangebote und Durchsetzungsvermögen'. Sehr erfolgreiche Seminare, wie ich
anmerken darf. Im heutigen Kurs sind immerhin 25 Personen!"
Ich blickte mich um. Tatsächlich war die Menschenmenge, die vor dem Klassenraum
in angeregte Diskussionen vertieft schien, eine der größeren im Gebäude.
Sollte ich Rudi doch falsch eingeschätzt haben?
"Was machen denn die drei Leute da drüben?" Ich zeigte auf einige
Gestalten, die mit geschlossenen Augen langsame Kung-Fu-ähnliche Bewegungen
vollführten.
"Die meditieren. Das ist eine Form von Fun-Yen-Tsui. Das ist eine
Meditationstechnik, die einem innere Stärke und Selbstvertrauen gibt. Ich halte
alle meine Teilnehmer dazu an, sich regelmäßig darin zu üben"
Ich erinnerte mich wieder an das Kursthema.
"Und was hat das mit Sonderangeboten zu tun?"
Rudi blickte mich mit einem Seufzen an und schüttelte den Kopf.
"Du hast ja keine Ahnung von der Brisanz des Themas. Hier geht es nicht um
das Ergattern von einfachen Sonderangeboten. Hier geht es um den knallharten
Kampf um das billige Produkt, im Spannungsfeld mit anderen Kaufwilligen. Da muss
man hart wie Stahl sein. Da zeigt sich, aus welchem Holz man geschnitzt
ist!"
"Und das lernen die Leute hier? Wie ich mich um Sonderangebotssocken
schlage?"
Rudi schnaubte mit den Nüstern.
"Socken? Wo lebst Du? Hier geht es um ganz andere Werte. Schon mal erlebt,
was lost ist, wenn bei ALDI Computer, Fernseher, Fahrräder oder Videorekorder
im Angebot rausgehauen werden? Die meterlangen Schlangen am frühen Morgen, der
Run auf die Geräte? Ne, und hier lohnt sich ein Zuschlagen ja in barer Münze.
Da kommt schon was rüber. Ich sehe, Du bist nicht zu überzeugen. Komm einfach
mit rein. LEUTE, PAUSE ZU ENDE!"
Gehorsam trabten alle wieder an ihre Plätze, während Rudi mich kurz als
Kursinteressenten vorstellte.
"Wir rekapitulieren jetzt einmal in einer theoretischen Übung unser
Vorgehen bei einem Sonderangebot eines PCs in einer ALDI-Filiale. Wir kommen
also eine halbe Stunde vor Öffnung an und stellen fest, dass bereits 30
Personen in einer Schlange warten. Was tun wir"
Einige Teilnehmer meldeten sich.
"Behaupten, dass man nur kurz auf der Toilette war und wieder an seinen
Platz am Anfang der Schlange möchte?"
"Kreativ, funktioniert aber nur in Ausnahmefällen. Andere
Vorschläge?"
"Der Türöffnertrick?"
"Sehr gut! Wir stehen unauffällig abseits, bis zu dem Moment, da von innen
die Türe geöffnet werden soll. Dann halten wir unseren Schlüsselbund in die
Höhe und schreiten mit einem lauten 'Platz da, ich mache auf!' an allen vorbei
bis zur Türe, die gerade von innen geöffnet wird. Wichtig ist allerdings das
Timing, sonst kann es zu üblen Verletzungen der Übertölpelten kommen, wenn
die was merken."
Er blickte sich um.
"Der anschließende Teil ist strategisch der Wichtigste. Sie müssen in
einer Rotte von Kaufwilligen möglichst schnell die bereitstehenden
Sonderangebote erreichen. Ohne Einkaufswagen sind Sie natürlich deutlich
wendiger, aber auch ungeschützter, da im allgemeinen der Einkaufswagen als
subtile Waffe im Kampf um die Produkte eingesetzt werden kann. Passen Sie auf
jeden Fall auf, dass Sie nicht im Run niedergetrampelt werden, da sie in diesem
Fall mit keinerlei Rücksicht und schwersten Verletzungen rechnen müssen.
Herbert und Siglinde, würden Sie uns eine kurze praktische Demonstration der
bereits gelernten Kampftechniken geben?"
Rudi wandte sich an mich.
"Das sind meine zwei besten Schüler. Beide haben ihre Kampftechniken unter
Ausnutzung der natürlichen Gegebenheiten schon sehr weit entwickelt."
Auf ein Kommando schob Siglinde, kräftig gebaut, einen bereitstehenden
Einkaufswagen auf den stilisierten, in der Ecke aufgebauten Wühltisch zu,
während der großgebaute Herbert zu Fuß einen großen Karton zu ergreifen
versuchte, der einen Sonderangebots-PC darstellen sollte.
Durch einen Hechtsprung gelang es ihm, den Kasten zuerst zu erreichen und ihn
über die zu spät kommende Siglinde hinweg zu heben. Jetzt begann ein
mitreißender Kampf. Siglinde versuchte, durch Einsatz ihrer backsteingefüllten
Einkaufstasche einen wuchtigen Schlag gegen den Unterleib von Herbert zu
führen, der aber geistesgegenwärtig mit dem gestreckten Fuß abgeblockt wurde.
Herbert gelang es, den Karton als Ramme einzusetzen, um die Konkurrentin aus dem
simulierten Gang zu vertreiben. Der Schlag wäre möglicherweise auch geglückt,
hätte Siglinde sich nicht seitlich abgerollt und mit einem kurzen Schlag den
Rollwagen in den Lauf ihres Gegenüber geschoben. Dessen anschließenden Sturz
nutzte sie, um den gefallenen Behälter in ihren Wagen zu wuchten und
zielstrebig die Richtung der Kasse anzuvisieren. Möglichweise hätte diese
Aktion den Kampf entschieden, wäre nicht ein gellendes "Es brennt, es
brennt!" ertönt, mit dem Herbert die kurzzeitig verwirrte Siglinde
abfangen und in ein gemeinsames Ringen um das Sonderangebot verwickeln konnte.
"Stop! Unentschieden. Ich Danke Ihnen! Die Nahkampftechniken nehmen wir
dann nächste Woche durch." Die beiden Kontrahenten verbeugten sich rituell
und nahmen wieder ihre Plätze ein.
Rudi betrachtete meinen erstaunten Blick.
"Du siehst, wir nehmen das Thema realitätsnah und mit praktischen Kniffen
durch. Allerdings, der versuchte Schlag mit der backsteingefüllten Plastiktüte
in den Unterleib war nicht so gut"
"So etwas kann man ja schließlich nicht machen!"
"Genau, das ist viel zu leicht anzuwehren. Ein gezielter Tritt auf die
Zehen ist viel effektiver und schmerzhafter! Gut ist auch die gekreuzte
Beinschere."
Ich beeilte mich, dass ich das Weite suchte. Rudi rief mir nach
"Warte doch! Du hast noch gar nicht der Lehreinheit "Bessere
Kassenschlangenüberwindung durch waffenlose Großtierjagd gesehen. Kursbeginn
nächste Woche Donnerstag!"
Klaus Marion
Last updated 05.05.02