(c) Klaus Marion 2001
erschienen 2/2001 in VorSicht
An kalten Winterabenden pflegte sich mein Sohn um
das Wohnzimmersofa einzufinden, um mit glänzenden Augen besseren Zeiten zu
lauschen.
"Früher", erläuterte ich ihm väterlich, " sind wir beim ersten
Schneefall mit unserem Schlitten 'rausgegangen, haben uns den steilsten Abhang
in der Umgebung ausgesucht und sind ins Tal gesaust. Und wenn ich 'steil' sage,
dann meine ich auch 'steil'." Meine Hand deutete ein Winkel an, der sich
mit bloßem Auge kaum von einem freien Fall unterscheiden ließ. "Wir waren
die härtesten Rodler im ganzen Stadtteil!"
"Du?" Ein leichter Zweifel in den Augen meiner Frau ließ sich nicht
übersehen.
"Ich. Schließlich habe ich meine Kindheit am Fuße der schwäbischen Alb
verbracht. Schnee und steile Berge. Da gab's nicht anderes"
"Papa, erzähl noch bitte einmal die Geschichte, als Du freihändig stehend
auf dem Schlitten rückwärts über die Sprungschanze gedonnert bist!!"
Es waren glückliche Zeiten.
Inzwischen hat leider der Ungeist der jugendlichen Rebellion auch meinen
Nachwuchs ergriffen.
"Ihr seid zu viert auf einem Schlitten über einen 50 cm breiten Grad über
ein Schneebrett gerodelt? Du bekommst doch schon Höhenangst, wenn Du das
Garagendach von Laub befreien willst."
Bei solchen Gelegenheiten pflegte ich dem jugendlichen Zweifler vertrauensvoll
die Hand auf die Schulter zu legen und ihm lächelnd zu verstehen zu geben, dass
er erst einmal soviel Schneeerfahrung wie sein Erzeuger sammeln möge.
Was bisher kein einfaches Unterfangen war, da wir gemeinhin nicht in
Wintersportgebiete vereisen, und der Schneefall in unseren Breitengraden in den
vergangenen Jahren, vorsichtig ausgedrückt, gegen Null tendierte.
So blieb das Schlittenfahren eher anekdotisch, und die Schlitten blieben ein
weiteres Jahr im Schuppen an der Wand hängen. Bis letztes Wochenende.
Ich starrte auf eine Schneelandschaft. "Wo sind die Kinder?"
"Die fahren draußen Schlitten"
Gegen Nachmittag kehrte unser Sohn zurück, um von seinen Abenteuern zu
berichten.
"Wir sind draußen auf der Strasse gefahren. Wahnsinn. Ein irres Tempo.
Beinahe wäre ich gestürzt, konnte mich aber gerade noch retten und bin dafür
in eine Schneewehe gedonnert.
"Nun mein Sohn, ich bin sicher, bei den ersten Erfahrungen mit Schnee kommt
jedem auch kleinere Geschwindigkeiten gigantisch vor. Wenn Du erst einmal meine
Erfahrung im Umgang mit dem weißen Element und richtigen Abhängen
hast..."
Die Straße vor unserem Haus ist nur leicht abschüssig und lediglich von
beschränkter Länge.
"Du traust Dich doch gar nicht, da runterzufahren!"
Das ist nun das Ergebnis der liberalen Erziehung: Widerspruch. Verleugnung der
Eltern. Offene Revolte. Es wurde Zeit, Flagge zu zeigen. Ich lächelte milde.
"Nicht trauen. Das werden wir ja mal sehen. Wo ist der große
Schlitten?"
Lächelnd begann ich, die etwas angerosteten Kufen mit einem feinen Sandpapier
glatt zu schleifen. "Wegen der Geschwindigkeit", vertraute ich meinem
Sohn an. "Sonst macht es doch keinen Spaß." Ich begann, die letzten
Unebenheiten mit einem alten Brocken Skiwachs zu füllen.
Ich stellte den Schlitten auf die Strasse und schwang mich schwungvoll auf den
Sitz. Mein Sohn blickte mich verständnislos an.
"Was willst Du denn hier. Wie rodeln auf der Strasse drüben!"
Jetzt starrte ich ihn an. Die 'Straße drüben' ist ein steiler Fahrweg, der
schnurgerade zu einigen Häusern am Stadtrand führt. Es wird von den Bewohnern
auch Sommers nur mit ordentlichem Anfangsschwung bezwungen. Dass es als
Schlittenpiste in Frage käme, hatte ich nicht ernsthaft in Erwägung gezogen,
da ich sicher davon ausging, dass der Schnee sich auf dem extremen Gefälle
sowieso nicht halten würde.
"Ist ne super Rodelbahn. Komm schon"
Auf der Strasse hatten sich sämtliche Kinder der Umgebung versammelt, dazu noch
diverse Elternteile, die dem Treiben interessiert zusahen.
"Finde ich toll, dass Sie selber mitfahren. Mein Schlitten ist leider,
leider defekt, sonst würde ichs auch mal selber wieder versuchen."
Seltsamerweise schien es bei allen Nachbarn Schwierigkeiten mit ihren alten
Schlitten zu geben.
Ich brachte mich in Position.
"Papa, was soll das?. Der Startpunkt ist da oben" Er zeigte weit in
die dunstige Höhe.
Unter anfeuerernden Rufen erreichten wir einen Punkt am Ende der Straße. Ich
setzte mich auf den Schlitten und starrte in die gähnende Tiefe. Noch nie war
mir das Straßenstück derart steil vorgekommen. Vorsichtig warf ich ein
Steinchen und lauschte auf den späten Aufprall.
"Jetzt mach schon. Das ist doch fast so wie bei Dir als Kind auf dem
Steilhang!"
Erst jetzt fiel mir wieder, dass es sich bei der von mir öfters beschriebenen
Szene um einen Ausschnitt aus 'Cliffhanger' gehandelt haben musste. Ich
schluckte. Die Fahrt ging los.
Mein Sohn stapfte langsam neben mir den Berg herunter.
"Papa, was machst Du denn da? Die Rodelbahn geht kaputt!"
Meine in den Boden gekrallten Füße hatten zwei tiefe Rinnen in den Schnee
gezogen.
"Ich... ich prüfe die Gleit-Eigenschaften der Bahn. Das äh, macht man so
unter Profis."
"Papa, komm, wir fahren einfach zusammen.
Beim gemeinsamen Schlittenfahren hat der an zweiter Stelle sitzende immer den
taktischen Vorteil, dass er als Steuerbewegungen getarnte Bremsmanöver ohne
große Problem ausführen und mangelnde Geschwindigkeit als Gewichtsprobleme
ausgeben kann.
"Los geht's"
Ich hatte kaum meine Absätze in den Schnee geschlagen, als mein Sohn einfach
meine beiden Füße packte und sie in die Höhe zog. Die plötzliche
Beschleunigung des Schlittens erreichte Werte, die kaum von einem Freifall zu
unterscheiden waren, während der Straßenrand und feixende Nachbarn an uns
vorbeirasten.
"Jetzt wird's lustig!"
Entsetzt beobachtete ich, wie mein Sohn uns im Zickzack zwischen aufsteigenden
Kindern, parkenden Autos, freigeschmolzenen Gullydeckeln hindurchzusteuern
versuchte. Wir überfuhren irgendein erschrecktes Tier. Genaues konnte ich nicht
sagen, den die Szenerie raste zu schnell an uns vorbei.
"Hui, und jetzt der Sprung!"
Noch keine 10 cm hohe Bordsteinkante hat je einen solch weiten Freiflug eines
Schlittens erlebt. Nach ca 120 Metern schien das Gefährt wieder Kontakt mit dem
Boden aufzunehmen, während wir nur knapp an dem Schemen eines entgegenkommenden
Auto vorbeidonnerten.
"Oooh, schon zu Ende. Noch mal!"
Während ich versuchte, die um eine Latte des Schlittens verkrampfen Finger
wieder zu lösen und das aufgrund der Beschleunigung aus meinem Gesicht
abgesackte Blut wieder seinen angestammten Platz einzunehmen begann, starrte ich
auf den Schlitten. Ich räusperte mich.
"Na sowas, da ist doch glatt die eine Kufe locker. Wie schade, die muss ich
erst reparieren. Weil... auf anderen Schlitten macht das gar ja keinen Spaß.
Und das dauert ein paar Tage. Na, bald kommt ja sicher wieder Schnee. Da... da
kann ich ja dann noch einmal mitfahren. Viel Spaß noch!" Ich eilte
schleunigst von dannen.
Heute habe ich gelesen, dass das Klima sich doch stärker erwärmt als
angenommen.
Es besteht also noch Hoffnung.
Last updated 05.05.01