© Klaus Marion 2005
erschienen in VORSICHT 6/2005
Seit einigen Wochen teilt sich die Bevölkerung in zwei genau zu unterscheidende Gruppen. Die einen haben es, die große Gruppe der Anderen hat es leider nicht.
Ich, für meinen Teil, bin dabei.
Nein , es geht dabei nicht um den Gegensatz von kapitalistischen Aktienbesitzern
und mittellosen Zeitgenossen. Auch nicht um persönliche Begehrtheit oder
gesellschaftlichen Erfolg. Es geht hier um etwas sehr viel Wichtigeres:
WM-Tickets.
Was waren wir doch für ein glücklich, einig Volk, als wir vor Monaten bei
jedem Gespräch mit Freunden zwangsläufig über die Frage zu diskutieren
begannen, wer wie viele Karten für die Fußballweltmeisterschaft 2006 bestellt
habe.
Leider war die Anzahl der Interessenten deutlich größer, als die zur
Verfügung stehende Karten.
Optimisten und fußballbegeisterte Zeitgenossen bestellten so viele Spiele wie
möglich. "Wenn von 10 bestellten Spielen einmal Karten für mich dabei
sein sollten, dann bin ich glücklich", nicht näher darüber nachdenkend,
dass die glückliche Zuteilung aller bestellten Karten zum persönlichen
Bankrott des Betroffenen sowie schuldnerischer Zwangshaft seiner ganzen Familie
führen würde. Vorsichtigere Gemüter begnügten sich daher mit einer
defensiveren Vorgehensweise und bestellten nur für ein oder zwei Spiele, ganz
Mutige vielleicht auch unverschämt teure Plätze in einem Eröffnungs- oder
Endspiel.
Dabei entzündeten sich die Gemüter auch an der Preiskategorie der begehrten
Tickets: Welche Taktik versprach mehr Erfolg. Lieber um viele Spiele mit den
billigsten Plätzen bewerben, oder doch deutlich mehr Geld riskieren, in der
Hoffnung, das die teureren Karten weniger gefragt seien und damit auch die
Zuteilungswahrscheinlichkeit der Bestellung steige.
Glückliche Tage der Unschuld.
Dann kam er, der Tag der Entscheidung. Per EMail durfte man erfahren, wie das
Urteil ausgefallen war. Während im Verlauf des Tages die ersten Glücklichen in
Telefonketten aufgeregt von ihrer Zuteilung berichteten, versuchte die Mehrzahl
bemüht Fassung zu bewahren:
"Nein, bis jetzt kam noch nichts. Aber ich habe mein Postfach nicht aktuell
durchgesehen, und bei meinem Provider dauert es immer etwas länger."
Doch mit der Zahl der verstreichenden Stunden stieg die Zahl der geknickten
Mitbürger dramatisch.
Ich für meinen Teil bekam tatsächlich Karten. Die Information erreichte mich
auf der Arbeit: Für zwei Spiele, mit der ganzen Familie. Um mich herum jedoch
nur abgrundtiefe Verzweiflung. Ich tröstete einige Kollegen mit dem Hinweis,
dass die ganze Sache sowieso von den Medien hochgeputscht wurde - und wer
brauche schon WM-Tickets, um glücklich zu sein? Für Menschen mit einer
gewissen geistigen Größe ist das schließlich alles völlig unwichtig. Dann
schlich ich mich zum Büro eines meines Kollegen, der ebenfalls zu den
Glücklichen gehörte, und schloss die Tür: "YEEEAAAA!!!!"
Auch die Familie war begeistert. Eine kurzfristig anberaumte Familienfeier
endete erst in den frühen Morgenstunden und übertraf alle Festlichkeiten
anlässlich aller gewonnener Welt- und Europameisterschaften der letzten Jahre.
Angesichts der Menge der nicht Bedachten verbot sich natürlich Häme oder gar
offen zur Schau getragene Siegesfreude, auch wenn es in Kindergärten oder
Schulen zu bedauernswerten Diskriminierungen von Kindern von Nichtkarteninhaber
durch Mitschüler gekommen sein soll.
Wir Karteninhaber (wir erkennen uns schon von weitem an unserem sicheren und
selbstbewussten Auftreten) sind da selbstverständlich mitfühlend und
zurückhaltend. So verstummen wir im Gespräch sofort beim Sichten eines der
Habenichtse und wechseln unauffällig das Thema oder die Straßenseite. Diese
Vorsicht ist angebracht. So hören wir immer wieder hämische Anspielungen auf
unsere Finanzverhältnisse, wie auch offen zur Schau getragenen Klassenkampf:
"Der Tag der proletarischen Revolution wird kommen, Du Kapitalist!"
Ein Finanzbeamter im Freundeskreis (er hat keine Karten bekommen) verwickelte
mich in ein unauffälliges Gespräch über die Herkunft des Geldes für den Kauf
der Karten, nicht um einige dunkle Andeutungen über Auslandskonten und Strafen
für Schwarzgelder fallen zu lassen. Ich verwies auf die steuerfreie Herkunft
aus einer kleineren Erbschaft.
Dabei ist die aufgeworfene Finanzfrage in sofern nicht ganz unbegründet, wurde
das Zuteilungsglück durch die umgehende Abbuchung des Gesamtbetrages vom
eigenen Konto begleitet, ein Vorgang, den sowohl manchen Kontobesitzer wie auch
den zuständigen Bankberater in Panik geraten ließ. Dem gegenüber steht die
Zusage für Spiele nicht näherer Besetzung. So musste wir Glücklichen im
kleineren Kreis die unbestreitbaren Vorzüge des Spieles B2 gegen B3 im
Vergleich zu der damit doch stark abfallenden Bedeutung des Spieles D1 gegen D4,
als Schlussspiel der Gruppe, gegeneinander abwägen. Die noch fehlende Zulosung
der Mannschaften und die damit bestehende Gefahr, dass die wertvolle
Vorrundenkarte sich als Zuschauberechtigung für das Spiel Namibia gegen
Ägypten entpuppen könnte, wurde durch die Informationen gut Informierter
abgemildert. "Mindestens die Gruppenersten und Gruppenzweiten werden
zugelost. Das heißt, es sind mit Sicherheit starke Mannschaften zu erwarten.
Und das zweite Spiel ist immer das wichtigste in der Vorrunde. Auf jeden Fall
besser, als das erste Spiel der Gruppe des Vierten gegen den Ersten."
Wir nickten zustimmend.
So blicken wir interessiert und entspannt den weiteren, kleineren
Kartenverlosungsrunden entgegen, auch wenn manche der bisher zu kurz gekommenen
versuchen, uns unseren Sieg des Geistes madig zu machen.
"Ich habe mir eine Mannschaftsserie bestellt. Alle Spiele der deutschen
Mannschaft. Wenn ich die kriege, siehst Du alt aus mit Deinen komischen
Vorrundenkarten für Senegal!"
Welch primitive Zumutung. Da muss er erst einmal Tickets bekommen.
Ich habe meine Karten.
Und die gebe ich auch nicht mehr her.
Klaus Marion
Last updated 11.10.05